Zügelhilfen – warum du mit dem Zügel lenken darfst

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Leichtigkeit am Seil ist die Voraussetzung für funktionierende Zügelhilfen. Foto: Isabel Tomczyk

Stell dir vor, du sitzt am Steuer eines Fahrschulautos. Dein Fahrlehrer sagt: „Und jetzt biege links ab“. Du schlägst das Lenkrad ein, und dein Fahrlehrer ruft entsetzt: „Du kannst doch nicht abbiegen, indem du das Lenkrad bewegst!“ Absurd? Jepp.

Jetzt sitze ich auf dem Pferd. Ich will nach links abbiegen. Dafür bringe ich meine Hand weg vom Pferdehals und weise dem Pferd mit dem Gefühl über den linken Zügel die Richtung. Jetzt höre ich sie schreien, die Dressurreiter. „Du kannst doch nicht über den linken Zügel abbiegen!“

Wieso nicht? Weil es das Ganze zu einfach macht? Korrekterweise geht das nämlich so: Ich brauche für dieses hochkomplexe Manöver des Abbiegens alle drei: Gewichtshilfen, Zügelhilfen und Schenkelhilfen. Inneres Bein treibt am Gurt, äußeres Bein verwahrt, Gewicht auf dem inneren Gesäßknochen, innerer Zügel angenommen, äußerer Zügel anstehend.

Diese Hilfenkaskade fürs Abbiegen wird nach meinem Kenntnisstand so begründet: Inneres Bein, damit das Pferd vorwärts geht und nicht auf die innere Schulter fällt, äußeres Bein, damit es beim Abbiegen nicht mit der Kruppe nach außen schwingt, innerer Zügel für die Stellung und Biegung und äußerer Zügel zum Begrenzen der äußeren Schulter.

Zügelhilfen zum Abbiegen. Sonst nichts

Nach Horsemanship-Art funktioniert das etwas anders:

  • Im guten Horsemanship brauche ich das innere Bein nicht als Dauerhilfe, weil mein Pferd gelernt hat, auch ohne Einwirkung ein gutes Vorwärts zu haben (ich benötige das innere Bein auch nicht, um mein Pferd am Laufen zu halten, weil es immer langsamer wird, sobald ich in den Zügel greife).
  • Ich brauche den äußeren Zügel nicht, weil mein Pferd gelernt hat, sich nicht über die äußere Schulter zu entziehen.
  • Ich brauche den äußeren Schenkel nicht, weil mein Pferd weiß, dass es ums Abbiegen geht und seiner Nase folgt und damit den Hintern nicht raus schwingt, sondern stattdessen mit dem inneren Hinterbein Last aufnimmt.
  • Das Ganze funktioniert, weil das Pferd das Wichtigste, nämlich den inneren Zügel und seine Funktion, verstanden hat.

Wer nun glaubt, dass ein Pferd, das gelernt hat auf eine Zügelhilfe hin abzubiegen, automatisch auf die innere Schulter fällt und sich im Genick verwirft, der geht von einem ziemlich schlechten Reiter und einer ziemlich schlechten Hilfe aus.

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Pferde können lernen, nicht nur nachgiebig auf eine Trense zu reagieren. Feine Hilfen inklusive Steuerung sind auch am Knotenhalfter möglich. Dieses Knotenhalfter bekommt ihr im Shop der Pferdeflüsterei.* Foto: Tom Haubner

Gerade, weil wir eben nicht mit Dauerzug und -druck reiten, und weil wir dem Pferd beibringen dem Gefühl des Seils zu weichen beziehungsweise ihm zu folgen, legen wir die Basis dafür, dass das Pferd die Zügelhilfe versteht: Ein Pferd, das gelernt hat, korrekt auf eine solche Zügelhilfe zu reagieren, folgt dem Gefühl der Reiterhand, biegt und senkt den Hals und gibt im Genick nach. Es ist mental im Gleichgewicht, es kann und will uns folgen. Entsprechend entsteht kein Widerstand im Körper, den wir mit weiteren Hilfen – nämlich dem inneren oder äußeren Bein und dem äußeren Zügel kompensieren oder abfangen müssten.

Vertuschen deine Hilfen Widerstand im Pferd?

Ross Jacobs formuliert das so:

„(…) the outside rein is used in turning a horse because it blocks the shoulder from leaking to the outside of the turn. However, the reason the shoulder is falling out is because the horse was not taught to follow the feel of the inside rein. Outside rein will not fix the cause of the problem, but it will cover it up – like putting paint over rust in a car (…)“

„(…) der äußere Zügel wird beim Abwenden des Pferdes benutzt, weil er verhindern, dass die Schulter nach außen in der Wendung ausbricht. Der Grund allerdings, warum die Schulter ausfällt, ist, dass das Pferd nicht gelernt hat, dem inneren Zügel zu folgen. Der äußere Zügel wird die Ursache des Problems nicht lösen, aber überdecken – wie wenn man Farbe über Rost auf der Karosserie eines Autos pinselt (…)“

Laut Ross ist die laterale Flexion das Mittel schlechthin, um dem Pferd zu helfen, seine Oberlinie zu entspannen. Und genau deswegen nutzt er den inneren Zügel und damit eine seitliche Biegung so gerne – weil sie Widerstände im Körper zeigen und helfen kann, diese zu beseitigen. Laut Ross gibt es kein mächtigeres Hilfsmittel als eine weiche Biegung als Antwort des Pferdes auf den inneren Zügel. Achtung: Ross nutzt den Zügel anders als zum Beispiel Warwick nicht, um nur den Hals des Pferdes in eine Biegung zu führen. Er will immer auch, dass sich die Hinterhand mitbewegt. Warum, erklärt er hier.

Am Anfang der Zügelhilfen steht die laterale Biegung

Die laterale Biegung ist mehr als nur das Flexen des Halses. Korrekt ausgeführt, geht sie durch den gesamten Körper. Korrekt bedeutet, dass die Ohren des Pferdes auf einer Höhe bleiben. Tun sie das nicht, verwirft sich das Pferd im Genick. Warwick Schiller nennt laterale Biegung auch „side situp“, weil das Pferd dafür seine Bauchmuskeln anspannt. Problemloses Lenken mit einem Zügel ist laut ihm dann möglich, wenn wir das Pferd eben nicht mit dem Zügel in die Biegung zerren. Stattdessen warten wir darauf, dass das Pferd nachgibt und herausfindet, was wir von ihm wollen.

Dieses Lenken des Pferdes ist nur ein Effekt einer verständlichen, gut ausgeführten und gut erklärten Zügelhilfe. Letztlich geht es darum, ob das Pferd dem Gefühl des Zügels folgen kann – egal, ob ich damit lenke, den Hals biegen oder den Nacken einstellen will.

Hände, die sich langsam schließen und schnell öffnen, sind wichtig für eine gelingende Kommunikation mit dem Pferd. (Diese Traumhandschuhe in Orange sind von W&F Meisterhandschuhe). Foto: Isabel Tomczyk

Im Umkehrschluss bedeutet das, dass ein Pferd, das sich korrekt mit einer Zügelhilfe stellen lässt, auch richtig auf eine Zügelhilfe hin abbiegt. Wir brauchen diese Hilfe als Kommunikationsmittel für gutes Reiten – korrekt im Sinne des Pferdes, nicht im Sinne einer Reitlehre.

Versteht mein Pferd den Sinn der Zügel, kann ich beginnen, ihm das Abbiegen ohne Zügel auf Gewicht und Fokus hin beizubringen. Der Zügel wird dann zum Korrekturinstrument: Begreift das Pferd die Hilfen aus meiner Körpermitte nicht, kann ich ihn nutzen, um dem Pferd Klarheit zu verschaffen. Voraussetzung dafür ist, dass das Pferd verstanden hat, was der Zügel bedeutet. Eine Schenkelhilfe kann hier ebenfalls eingesetzt werden, um dem Pferd zu verdeutlichen, was es tun soll.

Ich muss mein Pferd also nicht ewig nur mit einer Zügelhilfe lenken. Natürlich kann ich es über Gewichts- und Schenkelhilfen die Richtung wechseln lassen. Habe ich die Zügelhilfe aber nicht etabliert, kann ich ihm nicht effektiv kommunizieren, welche Kopf- und Halshaltung ich mir wünsche. Ich brauche den Zügel also doch für den Prozess des Abbiegens.

Im Urlaub auf Il Cornacchino ritt ich einen Tag lang die Schimmelstute Idea. Kursleiter Fabio meinte noch, dass ich beim Anhalten nicht viel Zügel einsetzen soll, weil sie sonst sofort eine Vollbremsung absolviert. Auf leichte Zügelhilfen kam sie auch schnell zum Stehen, gab aber nicht mit dem Nacken und Hals nach, sondern spannte gegen die Zügel. Ich hielt die Verbindung so lange aufrecht, bis sie auch im Nacken und Hals losließ. Es reicht nicht, „nur“ Gehorsam, in unserem Fall das Stehenbleiben, auf eine Hilfe zu erhalten, wenn wir dabei eine „Brace“, einen Widerstand im Pferd lassen.

 „Never, ever release on a brace“

(Pat Parelli)

Nach ein paar Wiederholungen hatte Idea verstanden, dass sie sich darauf verlassen kann, dass meine Hände immer weich anfragen und sie entsprechend auf die Zügelhilfe weich reagieren kann. Wir haben sie dann so weit verfeinert, dass ihr ein tiefes Ausatmen meinerseits zum Langsamer werden und Anhalten Signal genug war.

Die Zügelhilfen im Einklang mit den Beinen des Pferdes

Eine Zügelhilfe nach Horsemanship-Art beinhaltet, dass man den Arm seitlich vom Pferd weg führt, um dem Pferd (oder dem Muli) den Weg in die Biegung zu zeigen. Gut zu sehen ist hier, dass meine Zügelhilfe mit der Fußfolge von Muli Chari übereinstimmt. Foto: Leen Coremans

Wollen wir die Zügelhilfe weiter verbessern, dann lohnt sich ein Blick auf die Fußfolge des Pferdes: Im Horsemanship wollen wir die Zügel mit den Beinen des Pferdes verbinden: unsere Zügelhilfen sollen Einfluss auf seine Beine nehmen.

Hook the reins to the feet

(Buck Brannaman)

Daraus folgt, dass wir die Zügelhilfe in Übereinstimmung mit dem Abfußen der Vorderbeine des Pferdes geben. Sind wir zum Beispiel auf der linken Hand unterwegs und wollen nach links abbiegen, dann geben wir die Zügelhilfe dann, wenn das linke Vorderbein sich hebt. Buck Brannaman nennt das den Reaching Exercise. Wie der genau funktioniert, kannst du hier lesen.

Ich denke, die Unterschiede in der Hilfengebung zwischen der „normalen Dressur“ und dem „Western Reiten“ wie es hier beschrieben wird (ich weiß, es gibt zahllose Herangehensweisen und Hilfengebungen) liegt auch im Zweck des Reitens begründet:

Ein Reiner oder ein Buckaroo will sein Pferd einhändig führen. Die Pferde müssen lernen, dass sie nicht wie in der Dressur von den Hilfen eingerahmt werden und eigenständig in korrekter Form arbeiten.

Buck Brannaman wird zu diesem Thema sinngemäß zitiert, dass wenn ich schon für so ein simples Manöver wie dem Lenken alle meine Hilfen verwenden muss, ich dem Pferd komplexere Dinge nur mit Mühe beibringen werde.

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Klicke hier für mehr gute Bücher zum Thema Horsemanship.

The Essence of Good Horsemanship*
Klasse Buch über Horsemanship von Ross Jacobs

Ross Jacobs dröselt hier noch mal genau auf, warum die oben genannte Herangehensweise mit den vier Hilfen zum Abbiegen eine mechanische ist.

Den gesamten Text von Ross zum Thema innerer Zügel findest du hier unter Mythos 5

Der Reaching Exercise mit Buck Brannaman

Lust auf Reiturlaub in der Toskana? Hier habe ich über unseren Aufenthalt dort berichtet

In diesem Video siehst du am Anfang, wie Warwick das Pferd nur über den Zügel lenkt, ohne, dass es dabei auf die Schulter fällt oder die Balance verliert.

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4 Kommentare

  1. Vielen Dank für den super Artikel! Ich wollte mal ein Kommi da lassen und mich bedanken. Du schreibst sehr gut und vorallem auch nachvollziehbar – das ist toll. Ich schau immer wieder gerne vorbei, weil man echt was mitnehmen und lernen kann =)

    • Hallo Anna,
      danke für deinen Kommentar! Ich freu mich sehr, dass die Texte dir helfen und du sie gern liest. VG! Nadja

  2. Muss hier auch mal ein Lob an dich aussprechen. Verfolge deinen Blog ja schon länger und bin immer wieder begeistert von deinen Artikeln.
    Der Aktuelle Beitrag hat mir vor Augen geführt warum ich diese Art der Hilfengebung nie wirklich verstanden habe und das Reiten im Verein sehr schnell wieder aufgegeben habe. Die „normale“ Art der Reiterei liegt mir einfach überhaupt nicht, da viel zu wenig auf das Pferd und dessen Persönlichkeit eingegangen wird sondern nur stur mechanische Abläufe abgespult werden.
    Hast mich mal wieder darin bestätigt, dass wir mit unserer Stute auf dem richtigen weg sind 🙂

    • Hallo Ramona, danke für Lob und Kommentar! Mir ging es genauso wie dir – „normales“ Reiten ist unheimlich körperfixiert. Dabei ist ein Pferd so viel mehr als nur ein Körper. VG Nadja

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