Kennst du diese Tage? Du nimmst auf dem Weg zum Stall alle roten Ampeln mit. Und diverse Sonntagsfahrer, die den gesamten Weg bergab sicherheitshalber mal auf der Bremse stehen. Und die vergessen haben, dass ein Auto dann beschleunigt, wenn man das Gaspedal drückt.
Dein Pferd, das sonst immer erwartungsvoll am Tor steht, versteckt zur Begrüßung seine Nase bis zur den Ohrwurzeln in der Heuraufe.
Eine fette Wolke schiebt sich vor die Sonne und es fängt nicht an zu nieseln, sondern zu gießen.
Dir fällt der Futtereimer aus der Hand.
Du stellst fest, dass du die Karotten zuhause vergessen hast.
Und dann kommt dir noch einer mit „dein Pferd ist dein Spiegel“. Dass du nur achtsam genug sein musst. Und das Positive sehen.
Und du denkst dir, man, was bin ich für ein Vollversager. Versinkst in tiefe Traurigkeit. Oder suchst dir alternativ ein Objekt zum Draufhauen (im Best Case ist das nicht dein Pferd).
An solchen Tagen siehst du dein Pferd wahrscheinlich nicht als deinen magischen Seelenverwandten, erstrahlt in einer Aura milden Lichts, von kosmischer Schönheit, der dir den Pfad der Tugend zeigt.
Auch Pferde haben nervige Eigenschaften
Wir Menschen sind unperfekte Wesen mit unseren Launen, Gefühlen und Ansichten und Irrtümern. Immer öfter sehe ich Texte oder Beiträge mit dem Hang Pferde als überirdische Wesen zu verklären – ihnen werden Gott gleiche Eigenschaften zugeschrieben: sie irren nie, sie wissen immer, was gut ist, sie sind hier, um uns den rechten Weg zu weisen.
Ich halte das für ausgenommenen Bullshit. Pferde sind Individuen, genau wie wir, mit eigenem Charakter und Ansichten, Vorlieben, Stärken und Schwächen. Pferde irren – die niesende Ziege war doch keine Gefahr für Leib und Leben – und Pferde verhalten sich auch nicht wie leibgewordene vierbeinige Engel auf Erden – siehe die letzte Herdeneingliederung und die damit verbundenen Machtdemonstrationen.
Sie über allem stehend zu betrachten ist genauso falsch und extrem wie zu behaupten, der Mensch habe mit seinen Einschätzungen immer Recht und müsse stets das letzte Wort haben.
Nicht noch ein Seelenpferd-Artikel!
Es gibt Dinge, die uns bei unserem menschlichen Partner auf die Nerven gehen. Wenn er den Schlüssel ständig irgendwo hinlegt, ihn dann gefühlt stundenlang sucht – statt einfach Mal die Disziplin aufzubringen, das Ding jeden Tag in die Glasschale in der Diele zu legen. Oder, dass man immer wieder Socken an Orten finden, wo sie nicht hingehören (es gibt da etwas, das nennt sich Wäschekiste).
Dann gibt es Angewohnheiten, die man selbst hat, die den Partner annerven. Einkaufen fahren und die Einkaufsliste auf dem Küchentisch liegen lassen zum Beispiel. Oder die Waschmaschine nicht auszuräumen und die gewaschene Wäsche darin vergessen.
Wieso sollte das in einer Mensch-Pferd-Beziehung anders sein? Schließlich treffen auch da zwei Individuen aufeinander.
Deswegen heute ein Anti-Seelenpferd-Artikel. Weil nicht immer alles rosa und mit Einhornstaub gepudert sein muss. Wir können manche Charakterzüge unserer Pferde zum Kotzen finden und das Pferd trotzdem schätzen, mögen, lieben. Das eine schließt das andere nicht aus.
Das Anti-Seelenpferd oder 10 Dinge, die ich an dir hasse
- Unfokussiertheit und Glotzigkeit. Die PN ist ein vielseitig interessiertes Pferd und hat entsprechend die Aufmerksamkeitsspanne eines Dreijährigen – Tierärzte und Therapeuten schätzen ihn in schöner Regelmäßigkeit auf 2 Jahre. Kein Scherz. Natürlich kenne ich die ganze „Dein Pferd ist ein Fluchttier und seine Wahrnehmung rettet ihm das Leben“-Leier. Leichter zu trainieren wird es deswegen aber nicht gerade.
- Ausblenden. Wenn ich nicht hinschaue, vielleicht geht es dann weg? Eine der Lieblingsstrategien der PN – das geht soweit, dass er versucht, den sich nähernden Traktor auszublenden, indem er sich weigert, ihn anzusehen. Wenn er das bei mir anwendet, drückt er meine Knöpfe ganz wunderbar. Ich kann einiges ab, aber ignoriert werden gehört nicht dazu.
- Festhalten an seinen Ideen. Die PN hält viel auf sich und seine Einschätzung und ist überzeugt von seinen Ideen. Deswegen hält er in schöner Regelmäßigkeit an ihnen fest. Zum Beispiel, dass es hinter der Hecke am Weidenrand prinzipiell spukt. War zwar seit zwei Jahren nicht so, aber sicher ist sicher. Verlangt man trotzdem seine Aufmerksamkeit, zeigt er seine ganze Athletik mit einem Sortiment von hochdynamischen Sprüngen über der Erde. Alternativ multitaskt er auf höchstem Niveau. Macht brav, was man von ihm will, hält aber mit den Gedanken fest am Grusel und sobald man ihm Pause geben will – zack – nutzt er die Gelegenheit, wieder das anzuglotzen, was er die ganze Zeit beobachten wollte.
- Keine Frustrationstoleranz und Ungeduld. Man will es jetzt und man will es schnell. Die Frustrationstoleranz der PN ist ebenfalls diejenige eines dreijährigen Kleinkinds. Innerhalb von Sekunden wechselt man in den Menno-Mode. Seiner Ungeduld verleiht er dann scharrenderweise Ausdruck.
- Merkwürdige Schreckhaftigkeit. Wir waren im Sommer spazieren und mussten dafür durch den hiesigen Landgraben: Ein Graben umwuchert von Hecken und Gestrüpp. Der Weg führt durch ein dunkles Loch in der Hecke, das kleiner als ein Türrahmen ist, nach unten in den Graben, im Graben entlang aus der Hecke raus und dann wieder nach oben auf die andere Seite. Ein Alptraum für jedes Pferd, das sich für ein echtes Fluttier hält. Die PN fand es nicht lustig, ist mir aber brav hinterher gedackelt. Laufen wir an einer fremden Koppel vorbei und die Bewohner kommen angeschossen, hebt er maximal den Kopf. Reiten wir im Nebel bei Temperaturen kurz über dem Gefrierpunkt auf dem Platz, kann der Bauer ruhig den Radlader in die Mistgrube fahren und dort die Schaufel ausschütten mit einem Lärm als krachten zwei Baukräne ineinander. Aber wehe, in der Ferne bewegt sich äh nichts. Dieses Nichts ist einfach wahnsinnig bedrohlich.
- Langeweile. Ist uns langweilig, dann suchen wir uns alternative Beschäftigungen – zum Beispiel bei der Hufpflege. Im Sommer hat er gelernt, mir dabei den Hut vom Kopf zu ziehen. Aktuell übt er den Schulhalt: Hat die Pflegerin seinen Vorderhuf angehoben und ihm wird fad, dann setzt er sich auf die Hinterbeine und hebelt sich vorn raus. Es lebe die geduldige Hufpflegerin und mein Timing am Seil, um ihn daran zu hindern.
- Muss man denn immer eine Meinung haben? Die PN hat zu alles und jedem eine Meinung und tut das auch sofort kund. Hufschuh angezogen? Ohne ist besser, also wird versucht, ihn abzuscharren. Etwas zu viel Intention in meinem Blick – zack, die Ohren gehen grimmig nach hinten, weil der Herr sein Karma gestört sieht.
- Überempfindlichkeit. Die PN kriegt Dinge schnell und leicht in den falschen Hals, fühlt sich ungerecht behandelt oder zu unrecht kritisiert. Er bekommt dann seinen empörten „Sag mir nicht, was ich tun soll!“-Blick mit nach hinten geklappten Ohren und verkniffenem Maul.
- Angst vorm Tierarzt. Tierärzte sind in den Augen der PN „böse Männer mit Maske!“ und grundsätzlich zu meiden. Er fängt schon mit dem Schnorcheln an, wenn das Auto auf den Hof fährt, und kommt der TA um die Ecke, klingeln die Alarmglocken wie die Kirchen an Heiligabend. Entsprechend äh unerfreulich gestalten sich zahlreiche Untersuchungsprozesse. Vor allem, wenn es darum geht, in Maul und Augen zu sehen, wird die PN zum Zweibeiner und steht nur noch auf den Hinterfüßen.
- Panik beim Anbinden/Wenn zu schnell zu viel Zug kommt. Spürt die PN zu viel Zug zu schnell am Halfter, versucht er, nach hinten wegzuziehen. Sein Hirn geht dann auf Standby und er gerät in blinde Panik. Wir haben alle „Gib dem Druck des Halfters in verschiedenen Situationen nach“-Simulationen durch und er macht das mustergültig. Ab einem gewissen Stresslevel aber kann er auf das Gelernte nicht mehr zugreifen.
Die Mitte zwischen Verantwortung und Akzeptanz finden
In Petras Podcast fiel dieses Zitat, das ich nach wie vor passend finde:
„Wir kriegen nicht unbedingt das Pferd, das wir wollen, aber das, was wir brauchen.“
Brauchen deswegen, weil es uns weiterentwickelt. Und das ist nicht immer ein leichter oder angenehmer Prozess. Schließlich werden wir dabei mit unseren vermeintlichen Fehlern oder Schwächen konfrontiert. Vielleicht haben wir auch das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Das müssen wir dann erst mal verdauen.
So kann unser Pferd uns besser machen. Zu einem besseren Pferdemenschen, aber auch zu einem besseren Menschen ganz allgemein.
Eigenschaften, die uns bei anderen ärgern, haben uns viel über uns selbst zu sagen. Entweder wir wissen um die Tendenz bei uns selbst, geben das aber nicht gern zu. Oder wir sehen darin etwas, das wir selbst gern hätten, aber (noch) nicht haben.
Ich stieß mich zum Beispiel am nicht immer sozialverträglichen Verhalten des Manns einer Freundin. Fand ich krass, unfreundlich, egoistisch. Bis mir klar wurde, dass ich selbst gern ein bisschen von dieser Gleichgültigkeit hätte, was andere von mir denken. Nicht in dem Extrem, aber doch mehr als damals. Heute hab ich damit meinen Frieden gemacht.
Wenn ich anfange, mich über die PN zu beschweren, kommt von meinem Freund in schöner Regelmäßigkeit der Spruch „look who’s talking“ oder „wie der Herr, so’s Gescherr“.
Und er hat Recht: Manche der PN-schen Verhaltensweisen und Eigenschaften verstärke ich – mit meiner Ungeduld, meinem Perfektionismus und meinen Erwartungen. Bei anderen kann ich der PN dagegen helfen – er fühlt sich besser, wenn ich ihm beim Tierarzt die Hand (=den Huf) halte und er weiß, dass er sicher bei mir ist, wenn er Angst hat.
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Wie immer liegt die Lösung in der Mitte zwischen den Extremen:
• Wir übernehmen die Verantwortung und unterstützen unser Pferd so gut, wie wir können. Wir bilden uns weiter, wir suchen nach Lösungen.
• Wir wissen aber auch, dass die (Selbst)Optimierung Grenzen hat und wir den Charakter unseres Pferde nicht verändern können – und das auch nicht sollten. Akzeptanz ist der Schlüssel zu guten Beziehungen. Manchmal bedeutet das auch, den Status Quo zu akzeptieren, statt in blinden Aktionismus zu verfallen. Hier hilft ein realistischer Blick.
Keine Sorge, es gibt einen zweiten Teil nach diesem Anti-Seelenpferd-Text: „10 Dinge, die ich an dir mag/mein Pferd rockt“.
Hier ging es darum, „Nein“ zu sagen.
Und der Beitrag dreht sich um Rücksichtnahme und die Probleme, die daraus resultieren können.
Wunderschön geschrieben – du hast es auf den Punkt gebracht. Es gibt Tage, wo ich mein Pferd nicht als meinen „Seelenverwandten“ sehe – aber oft hat dies mit mir selber zu tun: das Bonmot „dein Pferd ist dein Spiegel“ hat also etwas Wahres!