Achtung, Achtsamkeit!

Achtsamkeit

Guckst du achtsam! Foto: Isabel Tomczyk Photography

Vor ein paar Jahren mussten wir noch konsequent und fair mit unseren Pferden sein. Seit vorletztem Jahr müssen wir „pferdegerecht“ trainieren. Und aktuell lautet der Trend „achtsam sein“.  Wir müssen achtsam sein am Pferd, ums Pferd, mit dem Pferd. Und überhaupt.

Wie in allen Branchen wird auch bei den Reitern und Pferdemenschen in regelmäßigen Abständen eine weitere Sau durchs Dorf getrieben. So dass der maximalen Optimierung von Mensch und Pferd nichts mehr im Wege steht (bis zum nächsten Konzept, natürlich). Ich habe bewusst nicht „neue Sau“ sondern „weitere Sau“ geschrieben. Denn so neu ist sie gar nicht. Egal, ob es jetzt um Konsequenz, Fairness oder eine Art des Trainings geht, die der Natur des Pferdes entspricht (was meine Interpretation von „pferdegerecht“ ist): Alle diese Eigenschaften waren schon immer wichtig, sind es immer noch und werden es in Jahrzehnten immer noch sein. Und genau so ist es mit der Achtsamkeit.

Achtsamkeit, als Modewort benutzt, hüllt sich gern in diesen poetischen Schleier von alles durchdringender Intuition, von sanft gleitenden Karmawellen zwischen Mensch und Pferd, positiver Schwingung und alles erfüllendem, maximalen Einssein. Wir lächeln als wäre das ganze Jahr über Weihnachten und der Sternenstaub pudert unsere rosigen Bäckchen und das glänzende Fell unseres piaffierenden Pferdes.

Achtsamkeit, blank gezogen

Entzaubert man die Achtsamkeit und holt man sie von ihrem überhöhten, von Lichterketten gesäumten Podest herunter, dann bleiben Bewusstheit, Aufmerksamkeit, eine gute Beobachtungsgabe, Fokus, Präsenz und Gegenwärtigkeit übrig. Und für die eher Emotionalen unter uns: Empathie, Gespür und Intuition. Für mich sind das alles wichtige Eigenschaften guter Pferdemenschen.

Pferde haben die Gabe, uns in den Moment zu holen, weil sie selbst in diesem leben. Das kann uns helfen, selbst präsenter zu sein.

Dieses im Moment sein und den Moment wahrnehmen kommt uns oft nicht nur bei den Pferden abhanden. Ich denke, dass die Anforderungen, die unsere Gegenwart und unsere Lebensumstände stellen – dieses immer höher, schneller, weiter, effizienter – uns vom Moment und der Achtsamkeit weg treiben hin zu Stress und in den Autopilotmodus. Unsere Gedanken kreisen und wir erledigen Aufgaben automatisch, ohne groß darüber nachzudenken, was wir im Moment gerade tun – da wir gedanklich schon viel weiter bei der nächsten Tätigkeit sind. Unser Kopf kommt nicht mehr zur Ruhe. Die Besinnung auf die Achtsamkeit wirkt dann wie ein großes, rotes STOP-Schild (oder die sanfte, feine Berührung einer zarten Hand, die nur unser Bestes will und uns empathisch auf den richtigen Weg zurück geleitet). Multitasking ist das Gegenteil von Achtsamkeit.

Achtsamkeit

Zur Achtsamkeit gehört die Wahrnehmung mit allen Sinnen – auch der Nase. Foto: Isabel Tomczyk Photography

Achtsamkeit: Wahrnehmen ohne zu bewerten

Achtsamkeit hat eine Komponente, die auch für gute Pferdemenschen sehr wichtig ist: Wahrnehmen, ohne zu bewerten. Wir sind meist zackig in unserem Urteil, was gut und was schlecht ist und entsprechend schnell füllen uns Emotionen. Für ein Pferd dagegen ist es schwer bis gar nicht verständlich, was „gut“ oder „schlecht“ nach unseren Maßstäben darstellt. Es tut das, was es für seine beste Wahl hält.

Die Achtsamkeit kann uns hier helfen, das Verhalten unserer Pferde nicht zu bewerten, sondern es einfach als Information und Rückmeldung an uns wahrzunehmen. Auf dieser Basis müssen wir uns nicht ärgern und können experimentieren, wie wir das Pferd am besten unterstützen, eine Antwort zu finden, die wir uns wünschen.

Schon wieder „müssen“?

Vielleicht ist dir aufgefallen, dass der erste Absatz in diesem Text voller „müssen“ steckte. Das stellte nur eine kleine verbale Provokation meinerseits dar. Wir müssen nämlich gar nichts. Wir haben die Wahl. Unsere Pferde sterben nicht den Karmatod, wenn wir nicht jede Sekunde ihrer Anwesenheit mit allen Zellen unseres Körpers spüren. Es ist ein ganz normaler und sinnvoller Mechanismus, dass wir nicht immer alles um uns herum im Detail wahrnehmen, sondern filtern. Sonst würden unsere Hirne wohl unter dem Information-Overload kollabieren. Nichtsdestoweniger können wir unsere Wahrnehmung und unseren Fokus schulen und wählen, worauf wir uns konzentrieren und achten wollen und worauf nicht. Also „Nein“ zum Smartphone und „Ja“ zum Erspüren des Pferdekörpers unter uns. „Nein“ zum Geschrei der Kinder vor dem Stall und „Ja“ zum Gefühl der Zügel in unserer Hand.

In der Praxis bedeutet das auch: Ja, ich quatsche mit einer Mitreiterin, während mein Pferd daneben steht. Ich finde das zumutbar (und das Pferd chillt neben seiner Mini-Menschen-Herde. Nicht die schlechteste Erfahrung, meiner Meinung nach). Ja, ich quatsche beim Ausreiten mit der Mitreiterin. Dafür allerdings braucht mein Pferd Sicherheit und Routine, so dass es für mich in die Bresche springt. Ich gebe damit bewusst einen Teil der Verantwortung ans Pferd ab. Ich kann aber nicht verlangen, dass es alle Situationen souverän meistert, wenn ich selbst – da quatschend – nicht voll bei der Sache bin. Das gilt natürlich auch fürs Führen oder das Spazieren gehen oder jede andere Form von „Arbeit“ mit dem Pferd. Je präsenter wir sind und je mehr bei der Sache, desto besser wird das Pferd sein.

barhuf

Achtsamkeit ist schon lange ein Thema für Tanja und für Miri

Für Petra von der Pferdeflüsterei ist Achtsamkeit essentiell.

Akki von Führpferd ist eher genervt vom Thema.

Pfridolin Pferd strebt die goldene Mitte zwischen Herz und Hirn an.

Patrick von Healthy Habits schreibt hier großartig darüber, wie wir Kopf und Bauch nutzen können, um gute Entscheidungen zu treffen.

Hier habe ich über meinen Besuch bei Simone Carlson in Würzburg geschrieben. Dabei eht es ums Hinspüren zum Pferd – eine weitere Form der Achtsamkeit.

Shelley Appleton aus Australien gibt wertvolle Gedankenanstöße zu verschiedenen Pferdethemen (auf Englisch)

Für mehr Achtsamkeit im Umgang mit dem Pferd ist auch Anna Blake eine gute Quelle (auf Englisch).

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Ein Kommentar

  1. Toller Beitrag, da stimme ich dir zu. Gerade beim Pferd sollte man einfach mal vom Alltag abschalten und seine volle Aufmerksamkeit aufs Pferd lenken, auch wenn das manchmal leichter gesagt ist, als getan.
    LG

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