Hinterbeine kreuzen – warum?

Die Hinterhand weichen lassen, die Hinterhand untertreten oder übertreten lassen, die Hinterhand verschieben – auf Englisch „disengage or yield the hind“: Im Horsemanship ist diese Übung, die Hinterhand-Kontrolle, ein zentrales Tool, auf dem alles andere aufbaut. Das Pferd kreuzt dabei mit seinem inneren Hinterbein über sein äußeres.

Warum das so wichtig ist, wie, wann und warum man es einsetzt und worauf es ankommt, darum geht es in diesem Beitrag. Außerdem gehe ich auf die häufigsten Gegenargumente (Vorurteile?) ein.

Hinterhand weichen lassen – Warum?

Warum ist das Übertreten lassen der Hinterbeine sinnvoll? Aus drei Hauptgründen:

1. Kontrolle für uns

Alle Formen des Bockens oder Durchgehens – Buckeln, Steigen, zur Seite springen, den Renngalopp anwerfen – erfordern zwei Hinterbeine, die breit stehen und sich parallel vom Boden abdrücken. Die Kraft, sich mit zwei Hinterbeinen loszukatapultieren, hat Pferde über Jahrtausende überleben lassen. Wir Menschen können Kontrolle über diese Kraft gewinnen, wenn wir die Hinterbeine weichen, also übertreten lassen. Wenn sie kreuzen, kann das Pferd sich nicht mehr abdrücken. Damit nehmen wir ihm die Möglichkeit, blind zu fliehen, können kritische Situationen entschärfen, das Pferd bei uns halten und Kontrolle wie Kommunikation gleichermaßen aufbauen.

Ein gutes, das heißt korrektes hinten Übertreten hat außerdem zur Folge, dass das Pferd die Schulter aufmacht und Kopf und Hals rundet und fallen lässt (siehe Wie). Denn wir beeinflussen Kopf, Hals, Schulter und Hinterhand mit der Übung. Daraus resultiert eine entspannte Körperhaltung. Korrektes Disengagen ist also viel mehr als nur das Kreuzen der Hinterbeine – es fängt an der Nase an und geht durch den ganzen Körper bis zum Schweif. Das Pferd wird dadurch aufnahmebereiter, nachgiebig und nicht mehr auf Flucht und Gegendruck gepolt. Es lernt, auf Druck zu weichen.

Das Disengage ist ein wesentlicher Teil des One-eins-Stops, oder Bend-To-A-Stop, dem Notaus beim Reiten. Dabei holen wir zuerst den Kopf des Pferdes in die Biegung und lassen dann die Hinterbeine übertreten.


2. Entspannung fürs Pferd

Hinterbeine kreuzen lassen hilft dem Pferd, sich zu entspannen. Es gibt eine Theorie – wahrscheinlich wissenschaftlich nicht haltbar -, dass es die die Hirnhälften des Pferdes besser vernetzt. Dass das Pferd mehr Koordination für das Kreuzen aufbringen muss als für ein simples Geradeaus Laufen und es deswegen auf andere Gedanken kommt. Unbestritten dagegen ist die Annahme, das jegliche Form von Widerstand aus einem festen, geraden und steifen Körper kommt. Sobald wir etwas Biegung ins Pferd hineinbekommen, haben wir der Entspannung den Weg bereitet. Pferdetrainer Warwick Schiller zum Beispiel sagt, dass ein Pferd die „brace“ in einer Biegung nicht leicht aufrechterhalten kann. Wir bringen es durch das korrekte (!) Kreuzen lassen also in eine Form, die ihm hilft loszulassen.

Der australische Pferdetrainer Tristan Tucker ist soweit ich weiß in der Dressurszene ziemlich bekannt – er hilft Turnierreitern, ihre Warmblüter unter Kontrolle zu behalten. Dafür bringt er den Pferden am Anfang einen Bewegungsablauf bei, den er „Pattern“ nennt. Und dreimal dürft ihr raten, womit der beginnt. Genau. Dem Überkreuzen lassen der Hinterbeine und dem Hohlmachen der Schulter. Das Wesentliche dabei: Das Pferd spürt über die Abfolge der verschiedenen Schritte und durch die Biegung im Körper, dass seine Muskeln entspannen, was in der Folge dazu führt, dass auch sein Geist entspannen kann. So zeigt Tucker den Pferden eine Position, in der sie selbst Entspannung finden können. Die Hinterbeine weichen lassen ist also eine gute Möglichkeit, um die Worry Cup des Pferdes auszuleeren.

3. Vorbereitung für spätere Manöver

Egal, welche Reitweise man ausübt: Die Hinterbeine vorwärts und seitwärts treten zu lassen ist essentiell für eine ganze Reihe wichtiger Manöver und Lektionen. Ohne weichende Hinterhand keine Traversale, kein Kruppeherein, keine Hinterhandwendung und keine fliegenden Galoppwechsel. An der Qualität des Disengangen lässt sich auch erkennen, wie Übergänge unter dem Sattel ausfallen werden – geschmeidig und balanciert? Oder ruckelig und auf der Vorhand.

4. Sicheres Anreiten

Beim Anreiten wird es in der Regel interessant, sobald sich das Pferd mit dem Reiter zum ersten Mal in Bewegung setzt. Wenn man also nicht gerade drauf ist wie Ray Hunt, der Jungpferde teilweise komplett ohne Kopfstück angeritten hat (Minute 1.40), ist eine Kontrollmöglichkeit wichtig, um Pferd und Reiter sicher zu halten. Deswegen lässt man das Jungpferd als erste Schritte unter dem Sattel hinten übertreten – den Kopf holt man sich dabei in eine Biegung. Tritt das Pferd über und nicht zusammen, lässt man den Kopf aus der Biegung und erhält die ersten Schritte geradeaus.

Auch Übergänge von einer schnelleren Gangart in eine langsamere kann man am Anfang reiten, indem man den Kopf des Pferdes biegt und es kreuzend auf dem Kreisbogen auslaufen lässt, bis es steht. Das hat den Charme, dass alle Beine beim Übergang in Bewegung bleiben und das Pferd nicht lernt, auf die Vorhand zu fallen oder sie steif zu machen.


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5. Trouble Shooting

Pferde, die das Vorwärts verloren haben. Wenn ein Pferd das Vorwärts unter dem Reiter nicht findet und auf die treibende Einwirkung beider Beine und des Körpers fest wird, stockt und zäh wird (wie die PN anfangs), dann ist das Übertreten lassen (vorausgesetzt, es wurde korrekt vorbereitet) ein echter Lebensretter. Es versetzt uns nämlich in die Lage, zunächst mal die Hinterbeine zu bewegen. Da das Pferd gelernt hat, die Schulter aufzumachen (versus auf der Stelle einzudrehen), wird es, sobald die Hinterbeine ins Laufen kommen, auch mit den Vorderbeinen kleine Schritte machen. So haben wir das Pferd, das „nein“ zum Vorwärts gesagt hat, doch in Bewegung bekommen. Sobald das Seitwärts mit Biegung zuverlässig klappt, können wir langsam den Zügel lang lassen und Schritt für Schritt in ein gerades Vorwärts kommen.

Pferde, die an der Longe den Kopf hochreißen. Ein Pferd, das beim Longieren den Kopf nicht fallen lassen kann, ist emotional, mental oder körperlich nicht im Gleichgewicht. Übertreten lassen und die Biegung, die das bringt, können helfen eine Balance herzustellen. Korrektes Hinterbeine weichen lassen (ich wiederhole mich: die Schulter muss dabei aufgehen!) ist für mich die Voraussetzung dafür, dass ein Pferd sich auf dem Kreisbogen an der Longe oder dem Seil biegen und in guter Haltung laufen kann. Entsprechend können wir Pferden, die den Kopf hochreißen, mit der Übung helfen.

Hinterhand weichen – die Hilfen vom Boden

Hinterhand weichen geht so: Du stehst auf der linken Seite deines Pferdes, etwa einen oder anderthalb Meter neben der Schulter und du schaust in Richtung Pferdehintern. Dein Seil hast du in der linken Hand, in der rechten das Seilende oder eine Gerte, eine Flagge oder einen Stick. Jetzt nimmst du das Seil leicht an, indem du deine linke Hand hebst (so hoch wie deine Schulter). Damit holst du dir den Kopf des Pferdes in die Biegung.

Das ist aus drei Gründen wichtig:

  1. Deine Sicherheit. Falls dein Pferd treten sollte, wird es wahrscheinlich zuerst den Kopf wieder grade machen um leichter zielen zu können und den Körper in eine bessere Schussposition zu bringen.
  2. Du brauchst Biegung für Entspannung.
  3. Durch die Biegung fällt deinen Pferd das Übertreten leichter.

Dein Pferd hat den Kopf leicht gebogen und schaut zu dir. Jetzt schaust du intensiv auf den Pferdehintern, beginnst in Richtung der Hinterhand zu gehen und schwingst gleichzeitig das Seilende/die Flagge oder welches Hilfsmittel du auch benutzt, in Richtung Hinterhand. Wenn sich dein Pferd nicht bewegt, touchierst du es. Sobald dein Pferd den Hintern dreht, nimmst du den Druck raus und streichelst es. Wiederhole die Übung, bis dein Pferd mit dem inneren Hinterbein über das äußere kreuzen kann. Das Ziel ist, dass dein Pferd schon auf wenig Hilfe (idealerweise das Anheben des Seils und der Blick auf seinen Hintern) weicht. Es soll in der Lage sein, beliebig oft überzutreten und dabei Takt und Rhythmus zu halten. Wenn dein Pferd zwischendrin immer wieder zusammentritt und das Übertreten nicht gleichmäßig sondern mit Tempounterschieden stattfindet, dann variiere den Winkel, mit dem du auf den Hintern zugehst und verlangsame deine Hilfen.

Ganz wichtig: Schaue, was das innere Vorderbein macht! Es darf nicht in deine Richtung treten und es soll sich auch nicht eindrehen. Dann biegst sich das Pferd nicht korrekt, sondern fällt auf die Vorhand oder schiebt dich mit der Vorhand. In diesem Video siehst du ab Minute 4.40, wie es richtig geht. Im weiteren Verlauf ist auch zu sehen, wie Disengage aus der Bewegung funktioniert und wie es zu einem seitlichen Übertreten ausgebaut werden kann.

Hinterhand verschieben: Die Hilfen vom Sattel

Du sitzt gerade im Sattel. Jetzt nimmst du deine rechte Hand, gleitest so weit es geht mit ihr am Zügel Richtung Pferdemaul und führst sie dann so weit es geht nach rechts vom Pferdehals weg. Das ist das Signal für das Pferd, dem Gefühl zu folgen und die Nase herum zu nehmen. Tut es das, führst du deine Hand zum Oberschenkel, legst dein rechtes Bein etwas hinter den Gurt und gibst damit die Hilfe zum Übertreten und lässt die Hinterhand weichen.

Wenn das im Stehen klappt, kannst du so dein Pferd auch aus der Bewegung anhalten.

Wichtig: Frage immer erst nach mehr Biegung, wenn das Pferd auf den ersten Teil der Zügelhilfe nachgegeben hat. Sonst bringst du dein Pferd im Worst Case in Stolpern oder sogar zu Fall. Diese Hilfenfolge wird auch One-Rein-Stop oder Bend-to-a-Stop genannt. Die Zügelhilfe wird Indirekt Rein genannt. Sie spricht zur Hinterhand (du kannst deinem Pferd auch beibringen, nur auf den indirekten Zügel und ohne Beinhilfe den Hintern zu drehen). In diesem Video siehst du die Hilfe in Aktion.

Auch hier wollen wir, dass das innere Vorderbein sich in Richtung des äußeren bewegt und das Pferd die Schulter öffnet.

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Disengage im Einsatz

In der Lage zu sein, das Pferd übertreten zu lassen, kommt immer dann praktisch, wenn eine Situation heiß wird. Sprich, dein Pferd wird nervös, droht wegzuspringen oder fährt hoch. Wenn du jetzt gleichzeitig an beiden Zügeln ziehst, gibst du ihm nicht nur eine Möglichkeit für Gegendruck, du verschärfst sein Gefühl der Beklemmung. Vom Boden ins Halfter greifen und schön eng führen ist genauso unsinnig. Egal, ob reitend oder von unten: Jetzt kommt das Übertreten lassen gerade recht.

Disengage kann zum einen ein absolutes Notaus sein. Es unterbricht die Situation drastisch und setzt einen klaren Cut. Die unkontrollierten Rennsequenzen der Fotos zum Beispiel habe ich mit dem Herausschicken der Hinterhand abgebrochen und die PN damit vom Speedgalopp zum Halten gebracht. Hier kannst du einen englischen Bericht lesen von einem Ausritt, bei dem der One-Rein-Stop ein Durchgehen aufhalten konnte.

Die Hinterbeine übertreten lassen geht aber auch graduell. Dabei bringst du Biegung ins Pferd und es tritt seitwärts, bewegt sich aber weiter. Das hatte ich jüngst im Einsatz, als sich die PN bei einem Spaziergang hochgefahren hat. Ich bin mit ihm weitergelaufen, habe ihn in Stellung gebracht und übertreten lassen und nach einigen Metern angefragt, ob er auch wieder gerade gehen kann, ohne sich aufzuregen. Nach mehreren Wiederholungen war er dazu in der Lage.

Aber, aber…. menno! Vorurteile

Beim Hinterhand weichen kreuzen die Hinterbeine
Beim Hinterhand weichen kommt das Pferd auf die Vorhand? Wenn die Übung als Notaus eingesetzt wird, ist das so. Hier auf dem Bild auch schön zu sehen. Foto: Isabel Tomczyk Photography
  • Mein Pferd wird nie wieder aktiv mit der Hinterhand laufen können, wenn ich es zu oft übertreten lasse! Im englischen spricht man von „disengange“, wenn man das Pferd übertreten lässt, und damit dem Gegenteil von „engaged“. Der normale Reiter will natürlich gut untertretende, in den Schwerpunkt fußende aktive Hinterbeine. Das steht nicht im Widerspruch. Ich kann meinem Pferd beibringen, die Hinterbeine zu kreuzen und die Hinterhand weichen zu lassen. Und ich kann ihm beibringen, aktiv unterzutreten. Das eine schließt das andere nicht aus – ich brauche nur klare Hilfen. (Übrigens: Rein technisch tritt das Pferd nur im Schulterherein korrekt in den Schwerpunkt. Beim Schenkelweichen tritt es darüber hinaus, da es kreuzt). Zu behaupten, wer sein Pferd die Hinterbeine kreuzen lässt, verliert die Versammlungsfähigkeit des Pferdes, ist in etwa so wie seinem Pferd das Rückwärts nicht beizubringen, weil es darüber ja das Vorwärts verlieren könnte. Ziemlich doof, um es noch freundlich auszudrücken.
  • Ich bringe mein Pferd aus der Balance – wie kann das gut sein? Das ist ein Einwand, der durchaus berechtigt ist bzw. berechtigt sein kann: Wenn ich die Hinterbeine mit Energie übertreten lassen, dann nehme ich dem Pferd damit die Balance, die es bräuchte, um durchzugehen, zu bocken oder zu steigen. Da es sich in einer solchen Situation um einen Notfall handelt, würde ich den Balanceverlust des Pferdes in Kauf nehmen. Zumal es ja nicht bedeutet, dass das Pferd hinfällt, sondern nur, dass wir einen gewissen Bewegungsablauf für es unmöglich machen.
  • Mein Pferd fällt damit auf die Vorhand! Das will ich auf keinen Fall! Wenn ich das Disengagen als Notfall-Stop einsetze, also ein schnelles und tiefes Kreuzen fordere, dann fällt mein Pferd dabei in der Tat auf die Vorhand. Das ist auch gut so, schließlich wollen wir in Notsituationen gerade nicht, dass die Vorhand leicht und athletisch abhebt und das Pferd seine Stunts ohne Probleme durchziehen kann. Allgemein, das heißt abseits eines Notfalls gilt aber: Ein Pferd, das gelernt hat, korrekt zu kreuzen, macht gerade nicht die Schulter schwer: Wenn die Hinterbeine kreuzen tritt es mit dem inneren Vorderbein leicht nach außen in Richtung äußeres Vorderbein. Alle vier Beine des Pferdes sind damit in Bewegung, das Pferd ist nach innen gebogen und balanciert.
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